Doctor Strange glänzt, wo Regisseur Sam Raimi die Zügel fest in der Hand hat.
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Während das Leinwanddebüt der Avengers 2012 noch kaum vorstellbare Comicträume wachrief, würde das im heutige MCU wohl kaum zu Luftsprüngen führen. Neben genozidalen Aliens mit Raum und Zeit brechenden Edelsteinen, alternativen Timelines und filmübergreifenden Spinnenmännern, ist das MCU in den Jahren seither kaum wiederzuerkennen. Immer größer, immer comichafter, immer interplanetarer musste es seitdem sein. Und wenn das eigene Universum dafür nicht mehr ausreicht, sucht man sich einfach ein neues. In Doctor Strange in the Multiverse of Madness verschlägt es den selbstsicheren Magier daher in ein Abenteuer voll realitätsveränderndem und universumswechselndem Irrsinn.
Ob diese Ambitionen Früchte tragen und eine neue Phase der marvelschen Ideenfindung ankündigt, erfahrt ihr in unserer Kritik.
Kaum zu glauben, aber der letzte Solofilm des namensgebenden Zauberers liegt bereits sechs Jahres zurück. Auch wenn der Magier auf der Leinwand nicht vermisst werden musste. So tauchte der Sorcerer Supreme in Thor: Ragnarok auf, unterstützte die Avengers maßgeblich in Infinity War und Endgame und spielte zuletzt eine zentrale Rolle in Spider-Man: No Way Home. Hier war es auch, wo Marvel das erste mal ihre Zehenspitzen ins Multiversum wagten.
In Multiverse of Madness springe sie hingegen mit dem Kopf voran hinein. Neben einer langjährigen Solofilmabsenz, feiert noch ein andere sein Filmcombeback. Denn der legendäre Horror-Regisseur Sam Raimi (Evil Dead) beendet nach neun Jahren seinen Ruhestand, und kehrt zu einem Genre zurück, für das er in den frühen 2000er-Jahren mit der ,,Spider-Man“-Trilogie maßgeblich das Fundament legte.
Was den Filmemacher dazu bewegte zurückzukehren, ist schnell ersichtlich. Bereits der Vorgänger hatte für Marvel-Verhältnisse und dank des Regisseurs Scott Dericksson (Sinister) einen düstereren Ton. Die Fortsetzung geht mit Raimi sogar noch weiter. Ein Superheld, der durch die Fehler seiner Vergangenheit geplagt und von einer dämonische Hexe heimgesucht wird. Was nach einer Mischung aus Spider-Man und Drag Me To Hell klingt, wird in den Händen des erfahrenen Horrorexperten zum ersten schaurigen Genrefilm des MCUs.
Während Doctor Strange seit seines Solodebuts in zahlreichen MCU-Filmen zu sehen war, kam seine eigene Charakterentwicklung dabei zu kurz. Multiverse of Madness beginnt daher direkt mit einem Stephen Strange im Konflikt mit sich selbst. Die Ereignisse von Avengers: Endgame und seine Rolle darin, immer noch im Gedächtnis. Als er auch noch der Hochzeit seiner wahren Liebe beiwohnen muss, wirft ihn die Frage nach seinem eigene Wohlbefinden in ein Existenzloch.
Jene intrinsische Gefühlswelten der Person hinter der Maske beherrscht Raimi meisterhaft. Bereits Toby Mcguires Peter Parker war von Selbstzweifel und innerer Zerrissenheit geplagt. Schade nur, dass kaum Zeit für Reflektion bleibt, denn kurz darauf attackiert ein glupschäugiges Krakenmonster die Stadt und Stephen (Benedict Cumberbatch) muss erneut Strange sein.
Im Zentrum der Handlung steht hierbei die Teenieheldin America Chavez (Xochitl Gomez) die über die einmalige Fähigkeit verfügt, Portale in andere Universen zu treten. Eine Fähigkeit, die auch die seit WandaVision mit neuen Kräften ausgestattete Scarlet Witch (Elizabeth Olsen) gerne hätte. Es dauert nicht lang und die ehemalige Avengerin wird zur zentralen Schurkin des Films. Was folgt ist ein magisches ,,Katz und Maus“-Spiel, das durch skurrile Universen und tief ins Innere der beiden zentralen Figuren führt.
Anders als andere Marvel-Filme, setzt Doctor Strange in the Multiverse of Madness nicht auf einen vernichtenden Konflikt, der mit dem Weltuntergang droht. Vielmehr vertraut Sam Raimi darauf, dass die Zuschauer genug Hintergrundwissen mitbringen, um die Motivationen der Charaktere zu begreifen. (Ohne WandaVision bleiben wohl viele Fragen zurück)
In ein bisschen mehr als zwei Stunden lässt er die Handlung dabei von Stephen Stranges Suche nach der eigenen Vollendung und der Akzeptanz seiner Taten treiben. Die große Weltraumschlacht im dritten Akt bleibt sogar aus. Vielmehr scheint das Übel erst besiegt zu sein, wenn es lernt, mit den eigenen Problemen zu leben. Raimi schafft damit einen erfrischenden Ansatz, der im MCU bisher unauffindbar war und viel eher an seine ersten beiden ,,Spider-Man“ Filme erinnert.
Auch technisch ist an nicht nur einer Stelle zu erkennen, dass der legendäre Regisseur wohl mehr Freiheit genießen konnte, als viele seiner Kollegen. Die Kamera verhält sich dynamisch, zoomt direkt in die Gesichter der Charaktere, schwenkt hektisch wieder heraus. Spannende Bildmontagen sind allgegenwärtig und selbst absurde und brutale Action kommt nicht zu knapp. Konträr zur gängigen Befürchtung, dass Raimi nur nach einem schnelle Gehaltszettel aus war, ist die Essenz des Regisseurs an vielen Stellen spürbar.
Und hier punktet der Film auch am allermeisten. Wenn klar erkennbar ist, dass Raimis Gespür für Charaktere und makabre Comedy sichtbar ist, schöpft Multiverse of Madness aus einem schier unendlichen Fundus an meisterhafter Kreativität. Zu benennen ist hierbei wohl eine Sequenz, in der der Zauberer gegen einen Feind mit Instrumenten und Notenblättern kämpft und Danny Elfmanns Score zum bombastischen Klimax anschwillt. Anders verhält es sich jedoch wenn der Film durch seine Einbettung ins größere Ganze, auf marveltypische Charakteristika zurückgreifen muss. Das namensgebende Multiversum ist hierbei das größte Problem.
Während des Films verschlägt es Doctor Strange und America Chavez in teils visuell aufregenden Sequenzen durch verschiedene, alternative Universen. Was zunächst vielversprechend klingt, wird schnell zum Plugin für Marvel, um zukünftige Projekte anzuteasern. Vor allem der zweite Akt des Films, der größtenteils in einem anderen Universum spielt, ist davon besonders betroffen. Ein Moment, der bereits im Trailer zu sehen war und die mächtigsten Köpfe des Multiversums versammelt, hätte wohl einen ähnlichen Effekt, wie die Gruppierung der Avengers, oder der gemeinsame Netzschwung der drei Spider-Men darstellen solle.
Doch anders als in den oben genannten Filmen, wirkt die Sequenz in Multiverse wie reingehämmerter Fanservice, der wenig verdient ist. Die Aspekte rund um das Multiversum sind viel mehr Versprechen für das was noch kommt, als handlungstragende Momente, die die Charaktere der tatsächlichen Handlung vorantreiben. Raimi versucht zwar sich so gut es geht aus dem festgeschnürten Marvel-Korsett zu zwängen, schafft dies allerdings nur teilweise. Auch wenn er gegen Ende erneut seine Muskeln als Genreregisseur und Charakterprofessor spielen lässt, geht davor einiges an Kraft verloren.
Doctor Strange in the Multiverse of Madness ist ein interessantes Experiment gewesen. Kann ein Film, der so stark in ein bereits bestehenden Initialsystem eingebunden ist, funktionieren, wenn man einen der kreativsten Köpfe der Filmgeschichte als Regisseur anheuert. Ein Regisseur, der für seine makabre Art von Comedy und Horror bekannt, aber auch für seine charakterspezifische Darstellung von Superhelden bejubelt ist?
Bereits in der Vergangenheit hat Marvel gezeigt, dass sie durchaus bereit sind zu experimentieren. Teilweise erfolgreich (Thor: Ragnarok), anderseits aber auch nicht (Eternals). Mit Multiverse of Madness haben sie nun allerdings wohl die für sich passende Mischung gefunden. Der Film glänzt, wenn Raimi freie Züge hat, kreativ sein und sich auf die Charaktere konzentrieren kann. Er schwächelt hingegen, wenn er sich dem Käfig beugen muss, den sich Marvel mit 14 Jahren und 24 Filmen selbst geschaffen hat.
Dennoch schafft es der Film durchwegs zu unterhalten. Wenn auch die wirklich großartigen Momente spärlicher sind, als sie hätten sein müssen. Mit Doctor Strange in the Multiverse of Madness hat Sam Raimi dennoch eine würdige Fortsetzung geschaffen, die seine langersehnte Rückkehr in das Superheldengenre signalisiert, ohne dabei die Integrität zu verlieren.