Ein Mann der die Welt zerstören muss, um sie zu retten. Unsere Film-Kritik zum Christopher Nolan-Film "Oppenheimer".
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Wenn Christopher Nolan, einer der renommiertesten Regisseure und Drehbuchautoren des 21. Jahrhundert, einen neuen Film veröffentlicht, dann ist das per Definition ein Kinoevent. Kein anderer Filmemacher schaffte es in der Vergangenheit so treffsicher originelle und komplexe Ideen durch die Linse des Genrefilms aufzubereiten und sie dennoch nach allen Aspekten der modernen Blockbuster-Kunst auf den größtmöglichen Maßstab zu hieven. Nicht umsonst hätte es sein letzter Film (Tenet) sein sollen, der die Kinosäle am höchsten Stand der Covid-19-Pandemie wieder füllen sollte. Ob Oppenheimer die Kinosäle wieder füllt erfährt ihr in unserer Kritik!
Der Plan ging nicht ganz auf, denn Kinobesucher kamen noch nicht in den gewohnten Massen zurück. Erst Tom Cruises todesmutige Franchise-Fortsetzung, Top Gun: Maverick, konnte nahezu vor-pandemische Zustände wieder herstellen. Nolans neuster Streich schlägt indes in eine andere Kerbe. Vergangen sind (vorerst) die Genreeinflüsse und Sci-Fi-Elemente, die seine besten Filme – etwa Interstellar oder The Dark Knight – so herausstechen ließen. Mit Oppenheimer versucht sich Nolan vielmehr an seinem ersten Drama über eine Person des echten Lebens. Dunkle Verbrechensbekämpfer, zeitverzerrende Gedankenexperimente und interstellare Weltraummissionen setzen vorerst aus. Denn mit Oppenheimer widmet sich Nolan seinem greifbarsten Gegenstand, vergisst dabei jedoch nie seine Einflüsse. Seien es der eigene Stil, den er sich in all den Jahren selbst zu eigen machte. Insbesondere im hektischen Weltkriegsfilm Dunkirk. Oder der Geborgte, den er sich von Filmgrößen wie Stanley Kubrick auslieh.
Aber kann eine düstere Charakterstudie über den Architekten des Atomzeitalters den Zeitgeist auch so zielsicher penetrieren, wie es derzeit Barbie schafft und uns Barbenheimer glauben ließ?
Wann kommt die Bombe? Eine Frage, die sich Zuschauer während der dreistündigen Spielzeit von Oppenheimer unweigerlich stellen werden. Nicht ohne Grund. Immerhin machte die Rekreation des Atomtests im amerikanischen Los Alamos während des Zweiten Weltkrieges einen Großteil des Marketings des Films aus. Nolans penibler Wahn, alles so echt wie möglich darzustellen, verleitete einige Journalisten im Vorfeld sogar dazu zu glauben, er hätte in der Wüste eine tatsächliche Atombombe für den Film platzen lassen. Und auch wenn das unwahr ist, betonten die Beteiligten von Oppenheimer, dass es im Film keinen einzigen CGI-Shot geben wird.
Während der gesamten ersten Hälfte von Oppenheimer schwebt daher der Abwurf der Atombombe wie ein nukleares Damoklesschwert über dem Publikum. Als nach zwei Stunde endlich der Moment gekommen ist, ist er genauso spektakulär, wie man es sich vorstellen kann. Doch schnell wird klar, dass das nur der Anfang war. Denn im letzten Drittel schwingt Oppenheimer nochmal in eine gänzlich andere Richtung. Der Film wechselt den Ton grundlegend und wird vermutlich einige Kinogänger eher irritieren. Was als schnell geschnittenes Waffenrennen um die Herrschaft der Welt beginnt und mit einem der kathartischsten Momente der jüngsten Kinogeschichte endet, wechselt im Anschluss zu den wilden Jahren der McCarthy-Ära und der amerikanischen Hexenverfolgung ihrer ehemaliger „Helden“.
Oppenheimer, der nach den Folgen des Trinity-Tests und des Bombenabwurfs in Hiroshima und Nagasaki, mit schweren moralischen Fragen zu kämpfen hat, wird wegen seiner Verbindungen zum kommunistischen Untergrund von der amerikanischen Regierung verdammt. Nolan verwendet die Verfolgung des ehemals gefeierten Wissenschaftlers, um dessen selbst auferlegtes Fegefeuer nach der Beteiligung am Mord hunderttausender Menschen darzustellen. Doch vor allem jener Teil wirkt im Vergleich zur hitzigen Geschwindigkeit der ersten Hälfte eher schwammig. Nolans Absichten zeigen Inkonsistenzen auf, wodurch seine Aussagen oft von den schnell zwischen Szenen springenden Dialogfetzen verschluckt werden. Es hilft auch nicht, dass Nolan seinen zeitbezogenen Fetischismus nicht lassen kann und uns mehrere Zeitlinien und POVs präsentiert, die unnötige Verwirrung beisteuern. Die Handlung fängt sich schlussendlich zwar und dennoch muss sich der Film die Frage gefallen lassen, ob eine halbe Stunde weniger nicht geholfen hätte.
Unweigerlich hätte dadurch jedoch Emily Blunts Performance reduziert werden müssen, die vor allem im letzten Abschnitt besonders zur Geltung kommt. Ein Regisseur, dessen gesamte Filmographie wenig Gespür für weibliche Charaktere aufweist, hätte sich damit jedoch keinen Gefallen getan. Was bleibt sind weibliche Rollen, die eher unterfordert sind und lediglich Randnotizen in Oppenheimers Plot bleiben. Ein Schicksal, vor dem die männlichen Figuren in Nolans neustem Film natürlich auch nicht gefeit sind. Hier fällt es nur weniger auf. Auch wenn es Ausnahmen gibt.
Fünfzehn Jahre nachdem sich Iron Man und The Dark Knight eine kostümierte Schlacht an den Kinokassen lieferten und der moderne Superheldenfilm geboren wurde, arbeiten die beiden Auslöser des Wahns erstmalig zusammen. Und Christopher Nolan schafft es – wie im Übrigen auch mit all den anderen oscarnominierten Schauspielern in dem hochrangigen Cast – das Beste aus Robert Downey Jr. herauszuholen. Der Schauspieler, der für Chaplin (1992) und Tropic Thunder (2009) für den Oscar als bester Schauspieler nominiert war, zeigt als führendes Mitglied der amerikanischen Atom-Kommission in Oppenheimer, was uns wegen seiner langjährigen Mitgliedschaft im Marvel Cinematic Universe so lange verwehrt blieb. Downey überzeugt als skrupelloser und machthungriger Lewin Strauss, der maßgeblich an der Einführung von flächendeckenden Atomwaffen beteiligt war und liefert seine beste Rolle seit Jahren. Ein Umstand, den auch Downey selbst erkannte, der das Drama als „besten Film“ bezeichnete, in dem er jemals mitspielte.
Cillian Murphy, der dem titelgebenden Oppenheimer das nötige Leben einhaucht und es ihm in der zweiten Hälfte des Films wieder entzieht, spielt hingegen den desillusionierten Wissenschaftler mit einer schaurigen Emotionslosigkeit. Murphy reiht sich mit ausdruckslosen Augen und starren Blicken ins Nichts, lückenlos in den Kanon der weißen, isolierten Trauerklöße der Kinolandschaft ein, die an ihren eigenen Ambitionen zugrunde gehen und im Falle Oppenheimer, die gesamte Welt dabei mit sich in den Abgrund zerren. Kein Wunder also, dass Paul Schrader – Autor von Taxi Driver, Raging Bull, First Reformed u.v.m. und selbst Gallionsfigur der geschundenen Antihelden – in Oppenheimer den bedeutendsten Film des Jahres sieht.
Nolan erhebt Oppenheimer im letzten Akt fast schon zum biblischen Märtyrer, der von den Gefahren der eigenen Zerstörung warnte und damit auf taube Ohren stieß. Murphy spielt Oppenheimer nach dem Abwurf der Bombe durchgehen leblos. Ausdrucksstark in der Ausdruckslosigkeit. Wie das Vorher/Nachher-Bild eines Soldaten des Ersten Weltkriegs, der mit dem Leben davongekommen ist und sich das Gegenteil wünscht. Beunruhigend und erschreckend. Wie der leibgewordene Tod.
Oppenheimer ist ein Film, der trotz seiner beachtlichen Länge von drei Stunden, einfach nicht aufhören kann. Sobald der Abspann läuft, der von Ludwig Göransson mechanisch-beunruhigender Filmmusik begleitet wird, werden wir als Zuschauer aus der Sicherheit der Unterhaltungsmedien gerissen. Wir können uns nicht mehr in der kompetenten Darstellung eines der bedeutendsten Meister der Filmgegenwart wiegen, in der dramatische Charakterisierungen und spektakuläre Explosionen nur bloße Unterhaltung sind. Vielmehr konfrontiert der Film uns, die Zuschauer, mit der Realität, dass „Oppenheimers tödliches Spielzeug“ kein Machwerk filmischer Sensationsgeilheit ist. Oppenheimer wird zur Charakterstudie des titelgebenden Wissenschaftlers. Die Bombe seine größte Errungenschaft und sein gefährlichstes Erbe. Ein Leben im selbstauferlegten Fegefeuer. Der amerikanische Prometheus, der der Menschheit das Feuer brachte und dabei zusehen musste, wie wir die gesamte Welt anzündeten.
Sobald Oppenheimer endet, schwindet die Fiktion. Wir finden uns in einer Welt wieder, in der all das eingetreten ist, für das der Wissenschaftler verantwortlich ist und was er so vehement zu bekämpfen versucht hat.